manchmal, wenn ich ganz versunken bin in der aufgabe, gefühle mit farben, linien und formen auf ein blatt papier wachsen zu lassen – begegne ich leitsätzen aus meiner kindheit. Leitsätze, die sich wie ein ermahnender zeigefinger, tief ins fleisch bohren und irgendwann willst du davor nur weglaufen. Flüchten vor der ermahnung und Linearität. Aus allen Ecken ertönten Warnungen. Angst breitete sich aus, nachdem die mauer eingerissen war. So – als würden tödliche Seuchen bald die herrschaft an sich reißen und einzig was, wir* uns* zum Auftrag gemacht haben – die reine Seele der Jugend retten -, die sich gegen die allmächtige Manipulationsmaschine massiv zur Wehr setzen muss und vor allem nicht abgleiten darf in das Meer aus Sehnsüchten, Begierden und überschätzten Träumen. Das Solide*, angemessene Bescheidenheit, weibliche* Höflichkeit sind ehrenwerte Eigenschaften mit denen wir es schaffen und all die Bedrohungen von außen in die Flucht schlagen werden.
An erster Stelle stand das Teufelskraut. Schon ein Atemzug würde genügen, um ähnlich wie Christiane F. in Bahnhofhallen rumzuhängen. Am Ende bliebe nur Prostitution und der baldige Tod. Dicht gefolgt von den Gefahren einer Sekte, die gestrandete Kinder, so wie wir sie waren, gern in die Fänge bekommen. Sekten würden uns eintrichtern, an etwas zu glauben, damit sie in uns willige Schäflein finden, die von Tür zu Tür tingeln, um Zeitschriften zu verkaufen. Das Schneeballsystem war mir bereits in der Pubertät ein Begriff, wie auch der Geschmack von Teufelskraut. Ganz unbemerkt und leise bauten wir uns unsere Nischen und schafften es trotz allem die Fassade für die Erwachsene aufrecht zu erhalten, damit deren Welt nicht noch mehr ins Wanken geraten sollten. Nickten brav ab, um uns dann heimlich vom Schulhof in die Büsche zu schlagen.
Über die Gefahren im Inneren lehrte uns niemand etwas und dass das Leben manchmal auch schön ist – am aller wenigsten.
Brav schwiegen wir, wenn Lehrer_innen uns die Welt erklärten. Manche waren zugezogen. Das Zuziehen in die Ostzone* schien manchen weniger zu gefallen, aber so bekamen sie* die Chance endlich reinen Tisch zu machen. Wie der Geographielehrer*, der uns einiges an Lehrstoff abnehmen wollte, in dem er erklärte: „Wir hier im Osten müssen doch wissen, was Entwicklungshilfe bedeutet.“
Als mein Blick heute mit dem Zug wanderte, erinnerte ich mich an einen steinharten unausgesprochenen Leitsatz: Die Verteufelung von Wendehälsen. Ich saß so im Zug und freute mich über die Sonne, die Landschaft und die Menschen. Es war voll und das pure Leben. Ich muss nicht mehr über Grenzen fahren, um zu erfahren, wie andere menschen, ihr leben füllen. Es reicht schon eine kleine Reise am sonnigen Sonntag von einer Großstadt in die andere. Dortmund kam mir unglaublich vertraut vor, obwohl ich noch nie einen Fuß in diese Stadt gesetzt hatte. Und plötzlich war sie wieder da – die Wut auf die Wendehälse. Zum Glück zwinkerte mir mein inneres Auge versöhnlich entgegen, so dass ich mir ein Grinsen nicht verkneifen konnte.
Die Gewissheit nahm Raum ein. Mir wurde klar, ich habe einen scheiß gegeben auf die angekündigten Gefahren. Ich wollte mich tot saufen am Meer der Begierden und Sehnsüchte. Grenzen sprengen, offene Türen nicht schließen. Als ich auszog, wollte ich alles werden und sein und alles am besten gleichzeitig. Aber eines wollte ich nie und auf keinen Fall, zurückkehren – um zu hören – ich sei ein Wendehals*.
die bernsteinfrau
ps.: bei näherer betrachtung und mit mehr licht im rücken sehe ich die infantile vorstellung sehr plastisch vor meinen augen. Das bild vom wendehals. Also ich meine, ein mensch mit menschenbeinen und armen – vielleicht ein kleiner bauch und nur der kopf ist der kopf eines Hahns. Also so richtig mit so einem Hahnenkamm, Schnabel und federn. Ist klar – eben so ein richtiger, echter wendehals. Weiß doch jedes kind*, ehrlich mal. Und wie lang manchmal so fünf minuten sind und welchen weg so ein zug in der gleichen zeit zurück legt. Wahnsinn.